Der schwarze Holunder (Sambucus nigra) wuchs im Garten meiner Kindheit sehr üppig. Im Juni verströmten seine weißen, schirm-ähnlichen Dolden einen intensiven Duft. Die Früchte wurden im Herbst schwarz und hingen dann reif über. Ihr Saft färbte meine Hände wunderbar lila. In den Zweigen befand sich weißes Mark, welches ich manchmal herauskratzte, um mir aus den so entstandenen hohlen Zweigen ein Pusterohr zu basteln.
Der Schwarze Holunder kann bis zu 10 m hoch werden. Aber jeder Versuch, ihn zu beschneiden oder gar zu fällen, wurde von Helene, meiner Großmutter, sehr bestimmt verboten: „Der Holunder bleibt, wie er ist!“ Zu mir gewannt, flüsterte sie: „Das gibt ein Unglück, wenn er gefällt wird. Du weißt doch, Frau Holle wohnt darin!“
Das Märchen von Frau Holle ist in meinen Erinnerungen untrennbar verbunden mit dem Holunder in unserem Garten.
Und tatsächlich war und ist der Holunder im Volksglauben der Baum, dem mystische Fähigkeiten zugesprochen werden. Der althochdeutsche Begriff „Holuntar“ bedeutet „Baum der Frau Holle“. Namensgebend war aber nicht die Figur aus Grimms Märchen, sondern Holda, die Göttin der Germanen. Der Holunder soll der Lieblingsbaum dieser Göttin gewesen sein. Die Germanen glaubten an Holda als Beschützerin von Haus, Mensch und Vieh und an ihre Macht über eine gute Ernte und somit Wohlstand.
In der Überlieferung war sie aber auch eine Gottheit, die als Todesbotin auftrat. Während der Christianisierung stellte man sie als nächtliche Reiterin dar, die Albträume und Tod bringt. So fürchtete man einerseits den „Hollerbusch“ und die Holda, die in ihm wohnte, glaubte andererseits aber auch, dass er vor Hexen schützen kann. Später gab es z.B. den Brauch, in der Walpurgisnacht einen frischen Holunderzweig über die Tür zu hängen und so die Hexen, die auf dem Weg zum Brocken waren davon abzuhalten, im Haus Schaden anzurichten.
Auch bei den Kelten war der Holunderbaum mit Gut und Böse behaftet: Sowohl die schwarze Erdgöttin Morrigan und zugleich auch Lichtgöttin Brigid wurden mit ihm in Verbindung gebracht. In Schweden erzählt man den Kindern, dass man in der Nacht der Sommersonnenwende die Göttin von einem Holunderbusch aus sehen könne. In Dänemark gibt es die Sage, dass die Hyldemoer, die Hollermutter, im Holunder wohne und jeder Strauch das Tor zum unterirdischen Reich sei.
Noch bis ins 18. Jahrhundert war der Glauben verbreitet, dass Unheil demjenigen droht, der einen Holunderbaum fällt. Deshalb entschuldigte man sich in Bayern, Schwaben und im Elsass bei ihm für das bevorstehende Fällen oder Beschneiden. Man bat den Baum um Erlaubnis, um ihn nicht zu verärgern und damit die Wirkung seiner Heilkraft einzubüßen. In einigen Gegenden wurden dem Holunder sogar Opfergaben gebracht, um ihn bei guter Laune zu halten.
In Österreich und Süddeutschland wurden Hautkrankheiten des Viehs mit ihm behandelt: Dazu wurden bei Sonnenuntergang drei Triebe des Holunders abgebrochen. Dabei rief man den Namen des kranken Tieres. Die Holundertriebe hängte man auf und ließ sie vertrocknen. Wenn dies geschehen war, sollte auch die Hautkrankheit geheilt sein. An die Zweige des Holunders wurden z.B. auch eitrige Wundverbände gehängt, in der Hoffnung, dass der Holunder die Krankheit in die Unterwelt ableiten würde.
Und natürlich auch in Sachen Liebe maß man dem Holunder weitreichende Fähigkeiten zu: So wurden aphrodisierende Liebesgetränke aus den Blüten und Beeren zubereitet und wenn der Baum am Johannistag blühte, sollte auch die Liebe erblühen. Dem jungen Brautpaar streute man zur Hochzeit Holunderblätter. Küsste eine Frau einen Holunderbusch, so erfüllte sich sehr rasch ihr Kinderwunsch, so war man sich sicher.
Holunder sucht des Menschen Nähe, heißt es, er wächst gern in der Nähe von Häusern oder an Scheunen. Die Häuser soll er vor dem Eindringen von Mäusen, Fliegen und auch Blitzeinschlägen schützen.
Helene kannte sich aus mit dem Volksglauben, sie war die letzte unserer Familie, der dieses Wissen von Generation zu Generation vererbt wurde. Aber zu Lebzeiten wusste sie auch, dass diese Überlieferungen in der Zeit nach dem Sputnik-Schock und der daraus folgenden Verwissenschaftlichung nicht jedem mitgeteilt werden konnte – Spökenkieker” waren zu der Zeit nicht gern gesehen! Ich als Enkelin wurde “auserkoren”, ihr Wissen zu teilen. Mit 94 Jahren starb sie – in jeder Hinsicht viel zu früh! So bleiben mir ihre Erzählungen, die Kindheitserinnerungen an meinen Holunderbaum, der sich eine Mauernische an unserem Haus als Standort ausgesucht hatte und dank meiner Großmutter von Jahr zu Jahr üppiger wurde.
Und ich habe die Rezeptaufzeichnungen von Helene, in denen ich immer wieder gerne lese. Hier findet ihr unter anderem ihre Rezepte rund um den Holunder: Holunderrezepte